„das Geheimnis der geknickten Rippen und die Entdeckung einer bisher unbekannten Bauphase in der Baugeschichte des Überlinger Münsters“
Carl Fahr
Den meisten Besuchern des Überlinger Münsters wird dieser Fehler im Gewölbe, von dem hier die Rede ist, niemals aufgefallen sein. Zu vielfältig sind die Eindrücke von Größe, Erhabenheit und Schönheit des gotischen Überlinger St. Nikolaus Münsters und seiner Kunstwerke, um dieses Detail zu bemerken.
In einer Beschreibung zur Baugeschichte des Überlinger Münsters von Josef Hecht aus dem Jahr 1938 hatte ich gelesen, dass man gegen Ende der Münsterbauzeit, so etwa um 1550,
… „nach Erneuerung der Scheidbögen und Obermauern …. alte Werkstücke, namentlich Anfänger“….
verwendete, die nicht zu den darauf aufsetzenden Gewölberippen passten. Auch spätere Baubeschreibungen übernahmen teilweise diese Darstellung.
Der Hinweis von Josef Hecht hatte mich aber erst auf diese Gewölbefehler aufmerksam gemacht, auf die „alten Werkstücke, namentlich Anfänger“, die wir auf der Nordseite in den Jochen 7 und 8 in der Arkade zwischen dem Hochschiff und dem inneren Seitenschiff finden:
1. an der Halbsäule gegen die Giebelwand über der Empore, 2. an der Säule der Empore zum Kirchenschiff und 3. an der nächsten Säule zwischen Joch 7 und 6, die durch einen breiten Gurtbogen gegen die Arkade zwischen dem inneren und äußeren Seitenschiff abgestützt ist.
Außerdem schreibt Hecht, dass man, um diese alten Werkstücke einzubauen, nicht nur „die Scheidbögen und Obermauern“ über der Arkade zwischen den Seitenschiffen, sondern auch „die Scheidbögen im Innenschiff selbst“ abbauen und neu errichten musste.
Da aber zu diesem Zeitpunkt (ca.1550) auch das gesamte Münster lt. Hecht bereits überdacht gewesen sein soll – mit einem Satteldach über dem Mittelschiff und Pultdächern über den Seitenschiffen – so hätten auch diese Dächer wieder teilweise abgebrochen werden müssen.
Dieser riesige Aufwand für unpassende Bauteile nach einer ca. zweihundert-jährigen Bauzeit? Ich suchte nach einer Erklärung, nach einer Möglichkeit, aus den erhaltenen und hier angeblich nachträglich eingebauten Gewölbeanfängern nicht nur den ursprünglich geplanten Verlauf der Rippen sondern auch ein vollständiges, geplantes Gewölbefeld rekonstruieren zu können.
Von dieser Suche möchte ich hier berichten.
Der abgeknickte Rippenverlauf an den drei Gewölbeanfängern der Joche 7 und 8 im inneren nördlichen Seitenschiff ist augenfällig.
Bei genauerer Betrachtung erkennt man aber noch eine weitere Besonderheit:
Die Rippen wachsen hier nicht zentral aus einem Kapitell sondern schließen radial und tangential an den Säulen an.
hier in einer Zeichnung dargestellt der Unterschied der Gewölbeanfänger:
Gewölbe über Anfängern, die zentral aus einem Kapitell aufsteigen, haben als seitliche Begrenzung eine Wandfläche oder einen Scheidbogen. Sie bilden mit den anschließenden Wandflächen oder Scheidbögen ein klar ablesbares „Kirchen-Schiff“.
Allseitig radial, tangential an einer Säule anschließende Gewölberippen bilden dagegen eine völlig andere Gewölbe- und Raumform ohne strenge optische, längsge-gerichtete Gliederung des Raumes durch Scheidbögen oder Obergaden in einzelne „Kirchen-Schiffe“.
Bei den drei hier zu untersuchenden Gewölbeanfängern handelt es sich offensichtlich um einen Wechsel zwischen diesen beiden unterschiedlichen Raum- und Gewölbeformen.
Aber davon später.
Zu einer Rekonstruktion der Gewölbe, für die ursprünglich diese Gewölbeanfänger geplant waren, wurde zunächst ein genaues Aufmaß der erhaltenen Rippenteile über dem tangentialen Rippenansatz an der Säule – dem „Kämpfer“- erforderlich. Daraus würden sich Richtung und Bogenradius – die Spannung – der geplanten Rippen ermitteln lassen.
Es ging dabei um drei Rippen, in den folgenden Konstruktionszeichnung farblich unterschieden dargestellt:
zwei führen in das Innere des heutigen Sterngewölbefeldes, eine verläuft als Gurt quer zum Kirchenschiff und ist außerdem als Wandrippe bis zum Giebelfenster des inneren Seitenschiffs erhalten.
An der siebten Säule der nördlichen Mittel-schiff-Arkade wurden die Anfangspunkte der Rippen (Kämpfer) und die Knickpunkte an den Rippen genau eingemessen.
Aus diesen Daten sollte der weitere Rippenverlauf und die ursprünglich geplanten Gewölbe in dreidimensionalen Zeichnungen rekonstruiert werden.
Dies ist der Grundriss der Joche 7+8 der nördlichen Seitenschiffe, noch bevor zwischen den Strebepfeilern die heutigen Kapellen und das Nordwest-Portal eingebaut wurden
Ich habe die Richtungen der eingemessenen Rippen eingetragen. Es ist bei keiner der diagonalen Rippen eine Korrespondenz zu der gegenüberliegenden Arkade zwischen den beiden Seitenschiffen zu erkennen
- gelb: die Gurtrippen laufen quer zur Schiffsrichtung, ebenso die Wandrippen am Giebel,
- grün: diese Rippen überspannen schräg den Raum unter einem Winkel von 32,14° zur Gurtrippe.
- rot: unterhalb des Scheidbogens steigen diese Rippen aus den Mittelschiffsäulen auf mit 35.38° zur Schiffs-Längsachse
Aus den eingemessenen Richtungen und Spannungen (Bogenmaß / Spannweite) ergeben sich die in dieser Zeichnung eingetragenen Rippenbögen. Auch in dieser 3D-Zeichnung lässt sich bei allen eingemessenen Rippenbögen kein Bezug zu der Arkade zwischen den beiden Seitenschiffen ablesen.
Eine Ergänzung und Spiegelung der drei Rippenachsen lässt aber bei den grün gezeichneten Rippen eine deutliche Korrespondenz mit der Außenwand der ursprünglich geplanten dreischiffigen Hallenkirche erahnen. Ebenso evtl. ein Netzgewölbe, wie im folgenden Grundriss dargestellt.
Die in dem folgenden Grundriss dargestellte mögliche Gewölbeform zeigt ein Netzgewölbe mit Rippen, die von drei verschiedenen Gewölbeanfängern ausgehen:
- an der Mittelschiffarkade: einseitig radial tangential und den Scheidbogen der Arkade durchdringend
- in der Mittelachse: allseitig radial tangential aus freistehenden Säulen aufstrebend
- an der Außenwand: zentral aus einem Kapitell oder Dienst aufstrebend
im Folgenden wird die Rekonstruktion der Gewölbe in 3-dimensionalen Zeichnungen der einzelnen Gewölberippen dargestellt.
In dieser Zeichnung erkennt man:
Die sogen. Spannung, das Bogenmaß der quer zur Schiffrichtung verlaufenden Gurtrippen, ist nicht groß genug zur Überbrückung des Raumes zwischen der Mittelschiffarkade und der Außenwand. Eine Unterteilung in zwei gleich große Bögen der Gurt- bzw. Wandrippen mit einem Auflager in Raummitte ist erforderlich.
Für dieses Auflager habe ich Säulen (blau dargestellt) in der Stärke der heutigen Säulen der Seitenschiffarkaden (rot) angenommen. Sie liegen im Kreuzungspunkt von Mittelachse (längs) und Jochachsen (quer).
Auch das Bogenmaß der diagonal den Raum überspannenden Rippen (grün) reicht nicht bis zu den Diensten oder Kapitellen an der Außenwand. Ein flacher Verbindungsbogen zwischen den beiden aus den Gewölbeanfängern aufsteigenden Rippen ist notwendig.
Der Übergangspunkt der unterschiedlichen Radien liegt in der Raummitte über der Mittellinie zwischen den Säulen der Mittelschiffarkade (rot) und den neuen Säulen (blau).
Durch Drehung bzw. Spiegelung lassen sich aus den Mittelsäulen aufsteigende Rippen gleicher Spannung (grün) ermitteln, die statisch zur Abstützung des Knotenpunktes notwendig sind.
Die Konstruktion der mittleren Verbindungsrippe zwischen den beiden Knotenpunkten zeigt die nächste Zeichnung
Der Übergang der aus dem Gewölbeanfänger steil aufsteigenden Rippe zu der weiterführenden, sehr flachen Verbindungsrippe (blau) muss ohne Knick, d.h. tangential verlaufen.
Die gesamte Länge des Rippenbogens lässt sich aus dem Grundriss ermitteln. Ebenso der Abstand (2.31m) des Übergangspunktes vom Anfang des Gewölbebogens. Der Radius des Gewölbebogens ergibt sich aus den Daten der Geometer-Vermessung (2,83m).
Aus den Tangentialen zu den beidseitigen Radien lässt sich für die Verbindungsrippe (blau) ein Radius von 14,115 m ermitteln.
Aus der nächsten Zeichnung erkennt man, dass die sehr flachen Verbindungsrippen aus statisch konstruktiven Gründen in der Gewölbemitte unterstützt werden müssen. Dies geschieht durch einen Rippenbogen (gelb), der in Längsrichtung das Joch zwischen den Mittelstützen (blau) überspannt. Dieser Rippenbogen entspricht auch dem Wandan-schlussbogen des Gewölbes an der Außenwand, nicht jedoch dem Gewölbeanschluss an der Mittelschiffarkade. Man sieht, dass hier der Scheitel des Arkadenbogens bedeutend höher liegt.
Aus dem Zusammenfügen der einzelnen, rekonstruierten Gewölberippen wird immer deutlicher, dass ursprünglich über den erhaltenen Gewölbeanfängern in den Jochen 7 und 8 des nördlichen Seitenschiffs ein breites Netzgewölbe zwischen der Mittelschiffarkade und der Außenwand geplant war.
Die zuvor beschriebenen flachen Zwischenrippen (blau) liegen zu tief zum Anschluss an den Arkadenscheitel. Ich vermutete daher, dass die vom Geometer mit 35.38° zur Längsachse eingemessene Zwischenrippe (rot) zur Unterstützung der zum Arkadenscheitel weiterführenden, notwendigen Gewölberippen einen tragenden Bogen bilden sollte, wie hier dargestellt.
Aus dem Geometer-Aufmaß ergibt sich eine gesamte Spannweite von 5,675 Metern. Der Winkel der aus den Säulen aufsteigenden Schenkel des Rippenbogens ist mit 35,38 vermessen. Daraus läßt sich eine seitliche Schenkellänge von 2,07 Metern und ein mittlerer Zwischenbogen von 1,535 Metern ermitteln.
Der Verlauf des abgewinkelten Rippenbogens (rot) lässt sich auch rekonstruieren durch eine Spiegelung bzw. Drehung der Rippen um die Mittelachsen, wie hier dargestellt. Dabei stellt sich heraus, dass die sich kreuzenden Rippen (rot und grün) in den Schnittebenen auf gleicher Höhe liegen
.
Unklar bleibt, warum der Rippenbogen (rot) nicht steiler, also mit größerer Spannung angesetzt wurde, um einen höheren Scheitelpunkt zu erreichen. Die von der Mittelsäule (blau) aufsteigende Rippe (grün) hat bis zum Schnittpunkt mit dem Rippenbogen (rot) bereits ihren Scheitelpunkt überschritten, das ist statisch ungünstig.
Für den Einbau von Gewölbekappen zum Anschluss an den Arkadenbogen sind weitere Rippen mit gleicher Spannung als Tragkonstruktion in einem sehr steilen Anstieg zwischen dem Rippenbogen (rot) und dem Scheitel der Mittelschiffarkade erforderlich.
Bauliche Hinweise am Arkadenbogen auf diese Rippen habe ich nicht gefunden, auch nicht auf den Anschluss von Gewölbekappen. Sie wurden vermutlich bei der späteren Planänderung umgebaut oder überarbeitet.
Ein Überblick über die Gewölberippen zeigt, dass die Gewölbe bauökonomisch sinnvoll aus nur wenigen Rippen mit unterschiedlichen Radien bestehen (jede Farbe ein anderer Radius)
In den vorausgegangenen Zeichnungen habe ich dargestellt, dass sich aus dem Verlauf der drei abgeknickten, eingemessenen Gewölberippen die ursprünglich geplante Gewölbeform sehr genau rekonstruieren lässt.
Wie aber fügte sich das Netzgewölbe zwischen Mittelschiffarkade, Nordfassade und Westgiebelwand ein? Wie sollten diese Gewölbe überdacht werden? Das sollen die folgenden Überlegungen zeigen.
Überlegungen zum Gewölbeanschluss an die Außenwände:
Die folgende Zeichnung zeigt den Blick auf die Gewölberippen und -kappen, auf die Mittelsäulen im sogen. Gewölbekessel und auf den Anschluss des Gewölbes an Mittel-schiff-Arkade und Giebelwand.
In die offene Nordfassade sind die heutigen Fenstergewände mit Gesimsen und flachen Tudorbogen-Abschlüssen eingezeichnet und oberhalb des jetzigen Kämpfers auch ein möglicher gotischer Bogenabschluss. Dieser ist üblicherweise konstruiert auf der Basis eines gleichseitigen Dreiecks mit dem Radius der inneren lichten Öffnung. Dass diese gotischen Bogenabschlüsse sich einfügen unter den Wandanschlussrippen der Gewölbe ist deutlich erkennbar.
Eine Bestätigung finden wir auch in dieser Innenansicht mit Blick unter die Gewölbe. Sie zeigt links den Gewölbeanschluss an die Mittelschiffarkade, rechts an die Nordfassade.
In den Fensteröffnungen sind über der heutigen Kämpferhöhe zum Vergleich nochmals die flachen Tudorbogen eingezeichnet.
An der Mittelschiffarkade erkennt man den einseitigen, radialen Gewölbeanschluss mit komplizierten Überschneidungen der Rippen am profilierten Scheidbogen. An den Mittelsäulen steigen die Rippen dagegen allseitig radial tangential auf und an der Außenwand zentral über Diensten und Kapitellen.
Überlegungen zur Überdachung der Gewölbe:
Eine Überdachung dieser Seitenschiffe läßt sich anhand vorhandener Bauspuren rekonstruieren, die bei der Sanierung des Münsters zwischen 1908-1924 aufgemessen und dokumentiert wurden.
In dem hier kopierten Aufmassblatt Nr.50 habe ich die einzelnen Bauspuren farbig hervorgehoben:
- Nach Aufgabe der Planung einer 3-schiffigen Hallenkirche wurde der in Quaderbauweise errichtete Westgiebel bis auf die im Plan grün gezeichnete Linie abgebrochen.
- Zu einem späteren Zeitpunkt wurde der Giebel in Bruchsteinmauerwerk bis auf die rote Linie wieder aufgemauert.
- Mit einer weiteren Aufmauerung aus Ziegelmauerwerk bis zur Sparrenlage über den nördlichen Seitenschiffen stellt die magenta Linie den heutigen Giebelabschluss dar.
Die Linien der Bauspuren im Raumbild zeigen deutlich:
- die untere Abbruchlinie liegt zu tief für eine Gewölbeüberdeckung und die Linie des heutigen Pultdachs überschneidet die untere Hälfte der Obergadenfenster
- zum Anschluss der Gewölbe an die Fassade war vermutlich eine Kombination aus einem Pultdach (rote Linie) mit quergestellten Satteldächern über jedem Gewölbejoch geplant. Dafür spricht auch das Detail im Aufmaß, das einen ehem. Dachanschluss über dem Fenster einer nachträglich eingebauten Arkade zwischen den Seitenschiffen zeigt.
Die Dachkonstruktion muss zwischen der Mittelschiffarkade und der Aussenwand stützenfrei gewesen sein. Dadurch war der Aufbau des Daches und der geplanten Gewölbe statisch, konstruktiv und zeitlich unabhängig voneinander möglich.
- Ansicht
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Nach der erneuten Umplanung des Münsters (1429) wurde nachträglich im Joch 7+8 eine weitere Arkade unter dem bereits vorhandenen Dach eingebaut. Dies belegen die hier dargestellten und im Aufmaß Blatt 50 dokumentierten Spuren des ehemaligen Dachan-schlusses.
Zusammenfassung der Ergebnisse:
Die ungewöhnlichen Gewölbeanfänger im Überlinger Münster mit den „abgeknickten Rippen“ hatten mich gereizt. Wofür waren sie ursprünglich angefertigt worden, warum hatte man sie an dieser Stelle eingebaut?
Völlig überraschend führte mich aber dann die Rekonstruktion der ehemals geplanten Gewölbe zu neuen Erkenntnissen einer bisher unbekannten, architektonisch sehr interessanten Planungs- und Bauphase des Überlinger Münsters.
So muss m.E. die zeitliche Abfolge gewesen sein:
eine große Hallenkirche, gegen 1420 geplant und mit der Ausführung der Außenwände teilweise begonnen. Die Fenstergewände und Anfänger der Gewölbe sind in den Seiten-schiffen erhalten
zwischen 1420 / 1429 Umplanung und in den Jochen 7 und 8 im nordwestlichen Seitenschiff auch Ausführung incl. des Daches und der Gewölbeanfänger
Ausführung ab 1429 bis 1436, zunächst beginnend am Chor bis vermutlich zum Joch 5 oder 6.
später (ab ca.1470) folgte der Einbau von Seitenkapellen und ab 1512 der Umbau der Dächer
der ursprüngliche Plan 1420
Diese Zeichnung zeigt die ursprüngliche Planung mit 3 gleichbreiten Kirchenschiffen. Die Höhe der Kämpfer im Mittelschiff liegt 15,10m, die der Seitenschiffe 12,50m über Fußbodenhöhe.
(Differenz 2,60m = 8 Fuß, gleiche Differenz bei Umbau und Erhöhung der Chorgewölbe)
Nach Einstellung der Arbeiten an dieser ursprünglich geplanten 3-schiffigen Hallenkirche hatte es offensichtlich einen Versuch gegeben, die architektonische Vision beizubehalten:
die bisher unbekannte Planung vor 1429:
der lichtdurchflutete Kirchenraum unter hohen Gewölben, aber jetzt in einer veränderten und den statisch konstruktiven Erfordernissen angepassten Form.
Die Seitenschiffe waren niedriger, von einer Stützenreihe unterteilt. Dadurch wurde im Mittelschiff ein Obergaden notwendig mit Fenstern über den Seitendächern zur Belichtung des Mittelschiffs. Aus dieser Planungsphase sind Mittelschiff, Obergaden, Dachstuhl und die drei „unpassenden Gewölbeanfänger“ im heutigen Münster erhalten.
die Ausführung zwischen 1429 bis 1436:
Als man aber vor 1429 erneut umgeplante, wurde die bisherige architektonische Raumvorstellung vollständig aufgegeben.
Die romanische Basilika wurde abgebrochen. Auf ihren Fundamenten und den bereits bis etwa zu den Fenster-Kämpfern errichteten Außenmauern der vorher geplanten Hallenkirche die heutige fünfschiffige Basilika erbaut.
So entstanden ab 1429 (vermutlich zunächst nur in den ersten sechs Jochen) auf jeder Seite des Mittelschiffs zwei Seitenschiffe mit Arkaden und Obergaden unterschiedlicher Ausformungen und in abgestuften Höhen:
eine neue Basilika an Stelle der geplanten Hallenkirche, in der Raumwirkung das genaue Gegenteil der ursprünglichen Planung.
Bis 1436 wurden die fertiggestellten Bauteile mit einem alles überspannenden Sattel-dach eingedeckt. Dadurch war es im Inneren des Münsters sehr dunkel, die Fenster im Obergaden des Mittelschiffs wirkungslos. Die Belichtungsprobleme wurden ab 1470 nochmals vergrößert durch den Einbau von Seitenkapellen zwischen den Strebepfeilern und einer Gebäudebreite von jetzt fast 34 Metern.
Nichts erinnerte mehr an die ursprüngliche Entwurfsidee des Münsterbaumeisters Hans Dietmar, an seine architektonische Vision eines lichtdurchfluteten Kirchenraumes unter einem Firmament hoher Gewölbe.
Die hier aufgezeigte Rekonstruktion der geplanten Gewölbe klärt das bisherige Geheimnis der abgeknickten Rippen. Aus Sicht eines Architekten ist aber viel interessanter der verständliche Versuch des Münsterbaumeisters, seine räumliche Vorstellung in einer veränderten Ausführung zu retten. Unklar bleibt jedoch die Ursache für das Scheitern seiner Bemühungen.
Gab es vielleicht andere, nicht architektonische, sondern ideologisch oder theologisch begründete, unterschiedliche Raumvorstellungen von einem Kirchenraum?
Ein in Oberschwaben verehrter Mystiker aus Überlingen und seine Lehre von Askese und Kasteiungen vielleicht im Gegensatz zu der geplanten, hellen, offenen, ja fröhlichen Architektur?
Josef Hecht vermutet, dass 1436 „Erschöpfung der Geldmittel…die Ursache gewesen, warum der Rat den hochverdienten Meister Hans entließ“.
Er war zwischen 1425 und 1436 Münsterbaumeister in Überlingen.
Vielleicht war Münsterbaumeister Hans Dietmar auch froh, dass seine vertragliche Bindung nach zehn Jahren endete, enttäuscht, dass seine Ideen nicht hatten verwirklicht werden können.
Carl Fahr, Dipl. Ing. Architekt BDA
Überlingen, 2022 / 2023
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